Gerne dokumentieren wir den Redebeitrag einiger Genoss*innen vom Biko vom 8. Mai 2021:
Der 8. Mai ist als Tag der Befreiung in verschiedenen europäischen Ländern ein Gedenktag. Ein Tag, an dem der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und damit des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht wird.
In der frühen Bundesrepublik hatte der 8. Mai keine Bedeutung. Die nazistischen Gräuel wurde relativiert oder gleich ganz geleugnet und die Rede vom 8. Mai als „Tag der Niederlage“ war im gesamten politischen Spektrum verbreitet. Mit den 1968ern begann eine Entwicklung, sich selbst als erstes Opfer der Nationalsozialisten zu inszenieren und daraus ein positives Nationalgefühl abzuleiten. In den 1980er-Jahren stritten national-konservative und sozial-liberal Deutsche darum, ob man Opfer der Alliierten oder Opfer der Nazis gewesen sei. Spätestens mit Gerhard Schröder wurde der Nationalsozialismus in ein positives nationales Selbstverständnis integriert. Die geläuterte Berliner Republik gab vor, aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus gelernt zu haben und es fortan besser zu machen. Seinen Höhepunkt fand diese Wiedergutwerdung der Deutschen, als die Bundesregierung 1998 den Militärangriff gegen Jugoslawien beschloss. Ein Angriffskrieg nicht trotz, sondern wegen Auschwitz – wie ihn der damalige Außenminister Joschka Fischer rechtfertigte.
Diese Läuterung der Deutschen ist bis heute tragendes Motiv der Erinnerungspolitik. Sie zieht sich wie in goldenes Band durch die Bundesrepublik. „Gold statt Braun“ ist das Motto des Tages, um die Thüringer Hauptstadt zum Strahlen zu bringen. Die Rettungsdecken, die heute an vielen Gebäuden in Erfurt hängen sollen laut Initiator*innen eine „gemeinschaftliche und solidarisierende Antwort aus der Kunst- und Kulturlandschaft auf die Versuche rechter Gruppierungen und Parteien, Menschen auszugrenzen, Hass zu sähen und Kultur zu beschneiden“ sein. Die Decken stehen „für das Erinnern. Damit Auschwitz nie wieder sei…“
Dass Auschwitz nie wieder sei, genauer: Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe, formuliert Theodor W. Adorno als den neuen kategorischen Imperativ nach Auschwitz. Wer sich die Mühe macht, diesen viel zitierten Satz einmal nachzulesen findet im selben Absatz die Aussage, dass Auschwitz das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen hat. „Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaft, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern.“ Adorno spricht hier nicht über die Nazis, sondern darüber, was ihre Taten erst möglich gemacht hat, die Bedingungen für den Rückfall in die Barbarei.
Um zu verstehen, wie wenig Kultur der Unmenschlichkeit entgegenzusetzen hat, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie zynisch es ist, dieser erst engegen zu treten, wenn es um die „Versuche rechter Gruppierungen und Parteien, Menschen auszugrenzen, Hass zu sähen“ geht. Verschwiegen wird dabei, dass es nicht rechte Gruppierungen und Parteien sind, die politisch verantwortlich sind dafür, dass tägliche Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Mittelmeer ertrinken, die 1992 das Asylrecht faktisch abgeschafft haben und die auch in Thüringen jeden Tag abschieben lassen…
Was aber heißt es dann, Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole? Dass nichts Ähnliches geschehe? Was heißt es, die Bedingungen zu beseitigen, die den Rückfall in die Barbarei ermöglichten? Dazu gehört auf jeden Fall, Rassimus und Antisemitismus nicht erst als unmenschliche Auswüchse faschistischer Ideologie zu begreifen, sondern als aktuell bestehendes gesellschaftliches Verhältnis.
Innerhalb der bürgerliche-kapitalistischen Gesellschaft sind die Menschen gleich als Subjekte. Der Status als Rechtssubjekt sieht ab von ihrer eigenen Leiblichkeit und Bedürftigkeit. Ihre Gleichheit ist eine Vergleichbarkeit, die einhergeht mit ihrer Austauschbarkeit und potenziellen Überflüssigkeit. Um diese Einsicht in die eigene Austauschbarkeit und Überflüssigkeit abzuwehren bedarf es der Abgrenzung. Der Abgrenzung nach unten im Rassismus. Der Abgrenzung nach oben im Antisemitismus.
Im Rassismus wertet sich das Subjekt auf und hebt die eigene Tauglichkeit zur Verwertung hervor. Die Anderen, die Fremden sollen faul und nutzlos sein, damit sich die Rassist*innen um so deutlicher als fleißig und nützlich denken können. So kompensiert der Rasissmus die Angst vor der eigenen Deklassierung und erklärt und legitimiert außerdem einen rassistisch unterschichteten Arbeitsmarkt.
Im Antisemitismus spaltet das Subjekt das Abstrakte und Unverstandenen von sich ab. Die anderen Anderen sind verantwortlich für das Schlechte in der Welt. Weil die Krisendynamik der kapitalistischen Gesellschaft systematisch schwer zu verstehen sind, bietet der Antisemitismus eine Erklärung dafür, dass wir alle die Gesellschaft nicht gestalten und bestimmen, sondern eher davon getrieben sind. Der Antisemitismus kompensiert diese Ohnmachtserfahrung, indem er konkrete Schuldige anbietet. Jüdinnen und Juden sind im Antisemitismus Draht- und Strippenzieher, sie stecken hinter dem Kommunismus und dem Kapitalismus, sie bestimmen die Banken und die Gewerkschaften, sie machen Geld mit der Impfung und haben sich dafür die Pandemie ausgedacht. In ihnen verbirgt sich die geheimnisvolle Macht des Abstrakten.
In Abgrenzung zu beiden erzeugt das Subjekt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Identität.
Die Bedingungen für Rassismus und Antisemitismus zu beseitigen würde also bedeuten, die gesellschaftlichen Bedingungen zu überwinden, die den Menschen eine Existenz aufzwingt, die Rassismus und Antisemitismus nicht als Irrungen des Einzelnen, sondern als gesellschaftliches Verhältnis schafft.
Statt bundesweit Rettungsdecken auszuhängen, unter denen sich die bürgerliche Kälte verschleiert, ist es an der Zeit an den Grundfesten einer Gesellschaftsordnung zu rütteln, die die Unmenschlichkeit notwendig aus sich heraus produziert; oder es mit Max Horkheimer zu halten, dass „wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, [.] auch vom Faschismus schweigen [sollte].“ Soll heißen: Wer den Faschismus und seine Ideologie des Antisemitismus und Rassimus nicht aus seinen kapitalistischen Entstehungsbedingungen erklärt, leistet seinen Entstehungen am Ende Vorschub.
Stattdessen ginge es darum, Kapitalismus abzuschaffen, zugunsten einer bedürfnisorientierten Gesellschaft ohne Grenzen, mit Selbstorganisation statt Parlamentarismus, in der alle Menschen ein gutes Leben haben.