Halle zwei Jahre nach dem Anschlag

Am 09. Oktober jährt sich der antisemitische, rassistische und antifeministische Anschlag von Halle zum zweiten Mal. Am 9. Oktober 2019 versucht ein extrem rechter Attentäter gewaltsam in die Synagoge in Halle einzudringen, um die 52 Jüd*innen, die sich dort zur Feier von Jom Kippur versammelt hatten, zu töten. Dies gelang ihm nicht. Der Täter erschoss dann auf offener Straße Jana Lange. Er erschoss Kevin Schwarze, als er den Imbiss Kiez-Döner angriff. Auf seiner Flucht versuchte er, weitere Menschen zu töten, mehrere Menschen wurden dabei verletzt. Halle ist (offensichtlich) kein Einzelfall.

Rechte Gewalt hat Strukturen, die immer wieder Schutz durch Polizei und Justiz erfahren – im Gegenteil zu den Betroffenen. Letzteren gibt eine Ausstellung in Halle aktuell eine Stimme: Vom 08. – 21. Oktober läuft die Ausstellung “The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts” von der Künstlerin Talya Feldman, der Mobilen Opferberatung bei Miteinander e.V., Initiativen Betroffener und solidarischer Unterstützer_innen. Feldman beleuchtet Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland, lässt Betroffene zu Wort kommen & bildet „unermüdlichen Widerstand und gelebte Solidarität gegen eine politische Instrumentalisierung von Trauer und Erinnerung“ ab. Mehr dazu erfahrt ihr unter: gegen-antisemitismus-halle.de

Solidarität muss praktisch werden!

Mitkommen Wir fahren dieses Jahr aus Erfurt zur Gedenkkundgebung vor Ort in Halle. Die Kundgebung startet um 19 Uhr am Steintor, von den Gruppen Initiative 9. Oktober Halle, Migrant-Voices-Halle und NiemandWirdVergessen. Wir treffen uns zur gemeinsamen Anreise in Erfurt um 16.15 am Bahnhofsvorplatz (Abfahrt 16.36, Abfahrt Weimar 16.52). Rückreise vermutlich gegen 22 Uhr, Ankunft in Erfurt gegen 0 Uhr. Gemeinsam den rassistischen und antisemitischen Konsens brechen – für mehr Antifa und Solidarität mit allen Betroffenen von rechtem Terror und rechter Gewalt!

Unterstützen Auch der KiezDöner/TEKiEZ in Halle wurde Ziel des Anschlags. Der Laden befindet sich im Umbau zu einem Begegnungsort mit Frühstückscafé. Um ihn als Einkommensquelle für die Betreiber*innen und als solidarischen und als Erinngerungsort zu erhalten, ist der KiezDöner auf weitere Spenden angewiesen. Die schicken TEKiEZ Soli-T-Shirts sind vermutlich nicht mehr verfügbar – doch weiterhin braucht es Support. Spenden oder fragen, wie ihr sonst unterstützen könnt – ein Umbau hat meist viele Baustellen. Ihr findet die Soli-Aufrufe des KiezDöners auf ihren Social Media Kanälen auf (Vorsicht!) Facebook und Instagram. Spendenkonto: Miteinander e.V. | IBAN: DE84 8102 0500 0008 4734 01 | BIC: BFSWDE33MAG | Betreff: T-Shirt Kiezdöner.

Informieren Der Verein democ. hat den Halle-Prozess, der nach 26 Prozesstagen erwartbar mit einer lebenslangen Haftstrafe für den Attentäter endete, in Berichten und Protokollen dokumentiert. Sie betrachten insbesondere die herausragende Rolle und den Raum, den die Nebenkläger*innen in diesem Verfahren einnahmen und den sie immer wieder gegenüber Gericht, Verteidigung, Bundesstaatsanwaltschaft und Presse verteidigen mussten. Zu jedem Prozesstag hat Radio CORAX zusammen mit Halle gegen Rechts und dem AK Protest einen Podcast „Halle nach dem Anschlag“ produziert. Gegen das Vergessen berichtet dieser über die Verhandlung im Gericht und führt Gespräche mit Prozessbeteiligten. Eine Dokumentation dieses Verfahrens, die die Betroffenen nicht ausblendet, sondern diese an erste Stelle setzt und aus emanzipatorischen und kritischen Perspektiven auf die deutsche Justiz berichtet, ist unglaublich wichtig. Auch das muss mensch selber machen. Menschen haben das gemacht, danke dafür!

Zuhören Wir möchten anlässlich dieses Tages unseren Redebeitrag mit euch teilen, den wir letztes Jahr anlässlich des 9. Oktobers in Jena gehalten haben. In diesem thematisieren und kritisieren wir auch das Gerichtsverfahren und würdigen Statements von vielen – doch längst nicht allen – Überlebenden des Anschlags, die sich Raum zurückerkämpfen. Nicht dem Täter, sondern ihnen muss unsere Aufmerksamkeit gehören – und unsere Solidarität.

Redebeitrag

Der 9. Oktober hat viel verändert, für die Betroffenen, die Überlebenden, für die Angehörigen, aber der 9. Oktober zeigt auch, dass sich vieles in Deutschland nicht verändert hat. Antisemitische, rassistische, klassistische und antifeministische Denkmuster haben in dieser Gesellschaft Kontinuität, genauso wie die Ignoranz über diese Zustände. Rechter Terror hat in Deutschland Kontinuität. Der Unwille und die Unfähigkeit des deutschen Staates und seiner Organe diesem Terror angemessen zu begegnen hat Kontinuität. Einmal mehr offenbart sich dieses Unvermögen im Prozess um das Attentat in Halle.

Dass das im Vorfeld des Prozesses breit heraufbeschworene Narrativ des Einzeltäters falsch ist, dürfte inzwischen selbst das Gericht eingesehen haben. Dies ist jedoch nicht etwa den Ermittlungen des BKA oder der Justiz zu verdanken, sondern dem unablässigen Intervenieren der Nebenkläger*innen und ihrer Anwält*innen.

Im Verlauf des Prozesses wurde immer wieder deutlich, dass das Gericht selbst sich klassistischer und rassistischer Narrative bedient, die Tat auf diese Weise verharmlost und den Täter entpolitisiert. Weiterlesen… Dies wird unter anderem am Verhalten der Richterin gegenüber dem Angeklagten deutlich. Immer wieder rückt die Lebenssituation des Täters in den Fokus ihrer Aussagen. Oft macht sie sich darüber lustig, dass er arbeitslos gewesen sei, bei seiner Mutter lebe und auch im Studium kaum Leistungspunkte erbracht habe. Als ein Zeuge des BKA, der zuvor die Vernehmung des Täters vorgenommen hatte, auf die Frage für wen der Angeklagte sein Pamphlet geschrieben habe, antwortete: „für andere, die so denken wie er- also weiße Männer“ ergänzte die Richterin „die zu Hause in ihrem Kinderzimmer sitzen“.  Sie malt das Bild eines unselbstständigen Menschens, eines trotzigen Kindes oder eines unproduktiven Verlierers. Dieses Bild wertet zum einen andere erwerb- und/oder wohnungslose Menschen ab, zum anderen führt es zu einer gefährlichen Entpolitisierung des Täters, der sich bewusst dagegen entschied arbeiten zu gehen und staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Auch in der Planung und Begehung seiner Tat, spielte seine Lebenssituation eine maßgebliche Rolle, denn aus dieser heraus fasste den Entschluss Anleitungen zum Selbstbau von Waffen zu veröffentlichen.

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Das Problem ist nicht, dass der Täter arm ist und keinen Job hatte. Das Problem ist, dass er ein Neonazi, ein Mörder und ein Faschist ist.

Auch auffällig ist, dass auch rassistische Narrative und Denkmuster zu Tage treten. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die Sprache des Täters des öfteren unreflektiert seitens der Gerichtsteilnehmer*innen reproduziert werden. Dies geht sogar soweit, dass ein Nebenklageanwalt bei einer Frage an den Angeklagten das N-Wort benutzt. Wie soll ein Gericht zur vollumfänglichen Aufklärung eines rassistischen und antisemitischen Anschlags beitragen, wenn es selbst Rassismen reproduziert und in nicht in der Lage ist sich selbst und diese zu reflektieren?

Immer wieder fällt zudem auf, dass ermittelnden Beamten von LKA und BKA massive Defizite haben, wenn es darum geht die Ideologie des Täters näher zu beleuchten oder sein Internetverhalten nachzuvollziehen. Vermeintliche Ermittlungsergebnisse, etwa über die Funktionsweise von Imageboards oder die dort geteilten Inhalte, wurden lediglich aus anderen Berichten oder offen zugänglichen Artikel abgeschrieben, obwohl die Berichte suggerierten, dass die Verfasser*innen sich selbst auf Imageboards bewegt und dort recherchiert hätten. Auch die Nachforschungen zum Spielverhalten des Täters und der in diesem Rahmen vollzogenen Kommunikation liefen schnell ins Leere, nachdem die Betreiber der Plattformen Steam und meguca angaben keine relevanten Daten zum Täter erhoben oder gespeichert zu haben. Auf die Nachfrage einer Nebenklageanwältin ob die Ermittelnde BKA- Angestellte denn selbst einmal auf Steam war, antwortete sie: „Nein, ich bin keine Gamerin.“ Die mangelnde Expertise der „Sachverständigen“ könnte wohl kaum offensichtlicher sein.

Ein weiterer BKA-Beamter stieß in seinen Ermittlungen auf zwei Brüder, die die Dokumente und Waffenbauanleitungen des Attentäters nach der Tat online auf 4chan weiterverbreitet hatten. Das Resümé des Beamten: Spielt keine besondere Rolle. Diese Einschätzungerscheint gerade im Lichte dessen, dass sich der Täter selbst im Internet von der Tat des Attentäters von Christchurch inspirieren ließ, mehr als zynisch. Das ist allerdings auch nicht so sehr verwunderlich angesichts dessen, dass der zuständige Sachverständige, der die Schriften von beiden Attentätern verglich, zu dem Ergebnis kam, dass sich nur wenige Übereinstimmungen fänden und der Attentäter von Christchurch im Gegensatz zum Täter von Halle nur latent antisemitisch gewesen sei. Dabei offenbart er ein eklatantes Unwissen über rechtsradikales Gedankengut, insbesondere über die Verschwörungstheorie des großes Austauschs, auf die sich beide Attentäter explizit berufen. Wieder ist es der Nebenklage zu verdanken, dass diese massive Fehleinschätzung als solche anerkannt wurde.

Die Betroffenen und Nebenkläger*innen kritisieren zudem das Verhalten der Polizei im unmittelbaren Nachgang an die Tat scharf:

Ijona B., die mit der Gruppe Base Berlin am 09. Oktober nach Halle gereist war, berichtete davon, dass keine vernünftige Kommunikation seitens der Polizei gegenüber den Menschen in der Synagoge stattgefunden habe. Sie äußerte zudem ihr Befremden darüber, dass noch Stunden nach der Tat Polizisten im Einsatz gewesen seien,“die keine Ahnung hatten, dass wir Juden sind”.

Karen E., die sich zur Tatzeit ebenfalls in der Synagoge aufgehalten hatte, erzählte, dass die Besucher*innen der Synagoge später wie Täter*innen behandelt worden wären. Sie steht mit dieser Aussage nicht allein. Mehrfach hätten sie sich ausweisen müssen und ihre Taschen seien kontrolliert worden, auch vor den Augen und Kameras der Presse: “Da habe ich mich eigentlich als Objekt gefühlt”.

Rabbi Jeremy Borovitz, der Rabbiner der jüdischen Gemeinde base berlin, beschrieb einzelne Situationen als “abstrus”. Eine dieser Situationen sei zum Beispiel entstanden als sie das koschere Essen von einem großen Koffer in kleinere einzelne Plastiktüten umfüllen mussten, um es mitnehmen zu dürfen. Am Bus für die Evakuierung habe eine katholische Nonne für die Seelsorge gewartet. Angesichts einer langen Geschichte der Zwangskonvertierung, sei dies in dieser Situation “verstörend” gewesen. Auch er beschrieb das Gefühl, dass die Polizei die Menschen aus der Synagoge mehr als Verdächtige denn als Opfer behandelt habe.

Eine weitere Überlebende gab an, dass die Menschen bei ihrer Evakuierung aus der Synagoge mit Nummern versehen worden seien. Für sie habe das eine sehr große Bedeutung gehabt, erklärte die Zeugin, weil sie “an die Zeit aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert” worden sei.

Mehrere Zeug*innen berichten zudem davon, dass auf den Sicherheitsaufnahmen der Überwachungskamera an der Synagoge zu sehen war, wie eine Polizistin mehrfach am Leichnam von Jana L. vorbeigelaufen sein soll, ohne erste Hilfe zu leisten.
Jens Z. Und Dagmar M., die in Wiedersdorf von dem Täter angeschossen und stark verletzt wurden, berichten wie sie von der Notrufzentrale der Polizei nicht ernst genommen wurden, als sie von der Tat berichteten. Sie rieten Dagmar M. sogar dem Täter zu folgen. Erst 20 Minuten später traf ein einzelner Polizist ohne Rettungswagen ein.

Wovon ich euch gerade berichte, ist nur die Spitze des Eisberges des polizeilichen und richterlichen Versagens rund um das Halle-Attentat. Aus zeitlichen Gründen kann ich leider nicht näher in die Tiefe gehen. Klar wird aber: Wir können uns nicht auf den Staat verlassen, wenn es darum geht Betroffene und Angehörige zu unterstützen. Meine letzten eigenen Worte gelten daher den Überlebenden, den Betroffenen und den Angehörigen: Unsere Gedanken sind heute bei euch. Wir können nicht fühlen, was ihr fühlt. Wir werden vermutlich nicht verstehen, was ihr schon längst begriffen habt. Wir können und wir dürfen nichts anderes tun als euch zuzuhören, euch ernstzunehmen, uns zu reflektieren und solidarisch zu sein. Heute, am nächsten Dienstag in Magdeburg vor dem Amtsgericht. Immer.

Deshalb wirdmet sich der letzte Teil dieses Redebeitrags dem einzig Positiven, das der Prozess mit sich bringt: den beeindruckenden und starken Haltungen und Aussagen der Nebenkläger*innen. Dazu werde ich jetzt abschließend einige Zitate der Nebenkläger*innen verlesen und sie für sich sprechen lassen:

Mollie S. (Überlebende aus der Synagoge): „der Angeklagte hat sich mit “der Falschen angelegt. Nach dem heutigen Tag wird er mir keine Qualen mehr anrichten.”

Ijona B. (Überlebende aus der Synagoge): “So schockierend das auch für uns alle war […], das wird uns und auch mich mit Sicherheit nicht abhalten in eine Synagoge zu gehen und offen jüdisches Leben zu leben. Das lassen wir uns nicht von ihm und von niemandem nehmen.”

Rabbi Borovitz (Überlebender aus der Synagoge): „Jüdisches Leben wird in Deutschland weitergehen, blühen, wachsen”.

Roman Yossel R.
(Überlebender aus der Synagoge) direkt zum Angeklagten: „Die Straße war voll. Tausende von Menschen, die wenigsten waren Juden. Sie haben gesungen Shalom – Frieden. […] Dann habe ich verstanden, das ist das Deutschland, das ich kenne.” – “Was du getan hast, hat nichts gebracht.”

Agatha M. (Überlebende aus der Synagoge): „Möge die Gesellschaft sehen, dass Antisemitismus nach wie vor besteht! […] Hat meine Familie nicht tatsächlich genug gelitten während des Krieges? Muss ich hier tatsächlich hervorheben, dass ich am Leben bin dank meiner Großelterngeneration, die durch verschiedene Lager gehen mussten?“- „Mein Herz läuft über vor Trauer, wenn ich sehe, dass Antisemitismus immer noch nicht beendet ist. […] Heute ist es notwendig zu sagen: ‘Stopp! Es reicht!’

Christina F. (Überlebende aus der Synagoge): “So kann kein Mensch leben. Eine Zukunft in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen” – „Ich bin vor allem emotional erschöpft, weil ich unglaubliche Angst habe, dass wir schon wieder nicht gehört werden.“ – Sie fühle sich in Deutschland nicht ernst genommen – das liege an der Inaktivität der Politiker*innen und an der Gesellschaft, die nicht sehe, dass Antisemitismus ein Problem sei. Sie sehe das Problem auch in dem laufenden Prozess, für den die Nebenkläger*innen nicht genug finanzielle Unterstützung bekämen.

Karen E. (Überlebende aus der Synagoge): ”Er ist ausgebildet, motiviert, angefeuert und unterstützt worden von White Supremacy Gruppen, die nicht nur in den USA tätig sind, sondern auch in Deutschland. Wenn man diese Vernetzung nicht ernst nimmt,ist das Verfahren gegen den Angeklagten eigentlich bedeutungslos“

Ismet T. (Inhaber des Kiez-Döners, erlebte den Schusswechsel zwischen der Polizei und dem Attentäter): “Sie haben nicht gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt und ich lebe. Doch entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und Liebe. Wir haben keinen Hass. Wir werden nicht weggehen, wir werden nicht aufgeben, wir werden standhalten. Und wissen Sie was? Ich werde Vater. Ich bekommen bald ein Kind. Ich werde alles dafür tun, dass mein Kind sich für dieses Land einsetzt. Und dass ihr Bösen euch schämt. Kevin und Jana vergessen wir nicht. Im Koran gibt es noch einen Satz: ‘Wer einen Menschen tötet, tötet die ganze Menschheit.’ In diesem Schmerz werden wir gemeinsam leben. Das werden wir gemeinsam tun. Als Türken, Deutsche, Muslime, Christen und Juden.”

Nehmt sie ernst!

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