Redebeitrag aus Jena

Am vergangenen Samstag, den 3. Oktober 2020 haben in Jena ca. 250 Menschen für die Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland und Suhl demonstriert. Der Flüchtlingsrat Thüringen schlägt in seinem Redebeitrag eine Brücke von Moria nach Thüringen und fordert ein Suhl-Tribunal zur Aufarbeitung der (zahlreichen) Vorfälle in diesem Lager:

Liebe Freundinnen und Freunde,

und nun stehen wir wieder hier, um die Forderungen zur Aufnahme und für die Freiheit von Schutzsuchenden erneut hör- und sichtbar werden zu lassen. Nach unzähligen Appellen und Forderungen, nach Aktionen, Demonstrationen und nach den gewaltvollen Ereignissen in in dem Erstaufnahme-Lager in Suhl. Wir haben es mehrfach gesagt und wir sagen es wieder: wir haben Platz! Wir sind bereit, Menschen aufzunehmen, um ihnen hier und jetzt, Schutz und Zuflucht zu bieten.
Und alle Worte und Forderungen haben die Verantwortungsträger*innen nicht gekümmert. Sie sind immer wieder angebrandet an den Mauern der Festung Europa. Jeder vernünftige Plan, jedes Programm und jeder Ruf nach Evakuierung, wurde entweder nicht gehört, wurde verzögert oder ist gescheitert am politischen Spiel von Zuständigkeiten und Verantwortung – am politischen Spiel mit Menschenrechten. Und es gibt sie, die Schuldigen und Verantwortlichen für Moria und Suhl und es gibt keine Ausreden. Von allem gibt es Videos, Fotos und Berichte. Niemand kann heute mehr behaupten, von allem nichts gewusst zu haben.
Moria war schon lange eine Katastrophe und die ist absehbar in Flammen aufgegangen. Moria ist abgebrannt und hätte nie wieder aufgebaut werden dürfen – nicht dort und nicht an einer anderen Stelle. Das Feuer ist die Konsequenz einer europäischen Flüchtlingspolitik, die auf Abschottung und Abschreckung setzt. Einer Flüchtlingspolitik, die tötet und die Schutzsuchende in den Lagern über Jahre alleine ließ.

Die Bundesregierung hätte die Möglichkeit gehabt, die Situation in Moria zu entschärfen. In Deutschland haben über 170 Kommunen, Städte und Länder ihre Aufnahmebereitschaft seit geraumer Zeit unzählige Male bekundet. Thüringen und Berlin haben Landesaufnahmeanordnungen beschlossen. Bundesinnenminister Seehofer hat diese Solidarität und Bereitschaft jedoch blockiert.

Es bleibt ein und dieselbe Politik des Verhungern- und Sterbenlassens, die Moria möglich gemacht hat. Es bleibt ein unbarmherziges politisches Spiel der Verantwortungslosigkeit und der weiteren Entrechtung aller Menschen, die in den Lagern allein gelassen werden.
Die rassistische und mörderische Politik, die uns mit dem EU-Migrationspakt als „europäische Lösung“ verkauft wird, bedeutet nicht viel mehr als die weitere Entrechtung und ein Festhalten an der unmenschlichen Lagerpolitik – ein Festhalten daran, Menschen und ihre Rechte zur Spielmasse der Politik zu machen.  Von „Abschiebepatenschaften“ ist nunmehr die Rede. Wie verkommen muss man eigentlich sein, um sich ein Wort wie „Abschiebepatenschaften“ auszudenken.
Jede Krankheit, jede Vergewaltigung und jeder Rattenbiss sind das Ergebnis einer jahrelangen politischen Entrechtung. Sie waren stets Teil der gesamteuropäischen Lösung zur Restauration des europäischen Grenzregimes. Eine Entrechtung im Lichte der Öffentlichkeit. Vieles ist Jahr für Jahr immer und immer wieder schlimmer geworden. Moria und die griechischen Lager sind ein staatlich organisiertes Menschenrechtsverbrechen!
Nun ist Moria vielleicht Geschichte. Es ist Geschichte und dennoch sind wir keinen Schritt weiter. Das Lager ist weitgehend niedergebrannt und 13.000 Schutzsuchende darunter über 4.000 Kinder sind noch immer obdachlos. Denn obdachlos sind sie nun nicht erst durch den Brand, sondern bereits seit Monaten und Jahren. Das Lager Moria war nie ein Zuhause, das mit dem Brand zerstört wurde. Nicht allein der Brand, sondern die Existenz von Lagern wie Moria sind die Katastrophe!

Wenn die Friedensnobelpreisträgerin Europa und die Bundesrepublik ihre Werte nicht endgültig verraten wollen, muss die Zeit des Nichthandelns vorbei sein. Knapp 13.000 Menschen auf Lesbos hätten längst evakuiert werden müssen.

Dann müssen wir und Europa uns die Frage stellen, wie es sein kann, dass in Europa in den Lagern und auf dem Mittelmeer Zonen staatlich organisierter Menschenrechtsverletzungen entstehen konnten. Und diese Frage gehört nicht allein auf eine Kundgebung, sondern vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Wir fordern als Flüchtlingsrat Thüringen daher von der Bundesregierung, ihre Blockadehaltung umgehend aufzuheben und die sofortige Aufnahme mit dauerhaften Bleiberechten der Menschen zu organisieren! Wir fordern ein Moria-Tribunal!
Doch wir wissen, dass auch in Thüringen bei der Aufnahme und den Schutz von Geflüchteten längst nicht alles zum Besten gestellt ist. Dafür reicht ein Blick auf die Lagerunterbringung der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl, die rassistischen Übergriffe und nächtlichen Abschiebungen in Thüringen.
Die betroffenen Familien der gewaltvollen Ereignisse Dienstagnacht in dem Erstaufnahme-Lager in Suhl wurden kürzlich aus den griechischen Lagern aufgenommen. Aus einem Lager auf der Insel Samos. Auch der hartnäckige Druck der Seebrücke-Bewegung, die Proteste, Demonstrationen und Aktionen hatten es möglich gemacht, dass die Bundesregierung und das Land zumindest eine kleine Zahl von Kindern und Familien aus den Elendslagern herausgeholt hat. Das wurde uns als wichtiger Erfolg verkündet und für uns und all die Zurückgebliebenen ist und bleibt die Aufnahme dieser wenigen Familien zumindest ein Hoffnungsschimmer.
Doch in Thüringen angekommen blieb den allermeisten die fachmedizinische Versorgung verwehrt. Ihnen wurde versprochen, dass ihnen hier geholfen und sie behandelt würden.

Die aufgenommenen Familien gehören alle zu besonders vulnerablen Personengruppen – sie haben teilweise schwerwiegende Erkrankungen, sind traumatisiert und wurden gerade wegen dringend notwendiger fachmedizinischer Behandlungen hierher nach Thüringen geholt.
In dem Erstaufnahme-Lager in Suhl sind zwei Ärzte für die Behandlung und Untersuchung von knapp 600 Menschen zuständig. Mittlerweile haben uns zahlreiche Beschwerdebriefe erreicht, die wir übersetzt und gelesen haben. Im Falle einer Mutter, die im siebentem Monat schwanger war, hat die Familie Anzeige gestellt.

Trotz aller Versuche, dem medizinischen Dienst die massiven Schwangerschaftsbeschwerden zu beschreiben, trotz aller Versuche zu verdeutlichen, dass das Kind sich weniger und weniger bewegt, wurde ihr frauenärztliche Behandlung verwehrt und nie ein Krankenwagen gerufen. Bis es bereits zu spät war. Zusammen mit dem Familienvater wurden sie in ein Taxi gesetzt, um ins Krankenhaus zu fahren. Ihnen wurden Bustickets mitgegeben, um am selben Tag noch mit dem Bus zurück zu kommen. Im Krankenhaus konnte sie ihr Kind nur noch tot zur Welt bringen. Als wir die Familie zum ersten Mal persönlich treffen konnten, umklammerte der Vater das Foto seines toten Kindes und die Mutter ein selbst gesticktes Kissen, das sie für ungeborenes Kind gemacht hatte.
Es muss uns Kümmern, was mit den Menschen passiert, deren Aufnahme wir fordern! Es muss uns kümmern was mit den Menschen passiert, die in der Isolation der Thüringer Lager leben! Break the Silence! Die Familien fordern Gerechtigkeit!
Doch statt Gerechtigkeit erfahren sie Gewalt. Vergangenen Dienstagnacht dringen drei Securitys des Erstaufnahme-Lagers unter fadenscheinigen Gründen gewaltsam in die Wohnung der befreundeten Familie ein, mit der sie gemeinsam aus Griechenland gekommen waren. Sie schubsen und schlagen den Familienvater, um sich Zutritt zu verschaffen und verprügeln die Mutter, die das ganze zeitweise versucht zu filmen. Sie soll zu Boden gerissen und an den Haaren den Boden entlang auf den Flur gezogen worden sein. Fotos zeigen zahlreiche blaue Flecken, Blutergüsse und ausgerissene Haare der Frau.

Die Mutter, die wenige Wochen zuvor ihr Kind verloren hatte, versucht der befreundeten Familie zu Hilfe zu kommen und wird ebenfalls verletzt. Noch später in derselben Nacht versuchte die Security erneut der bereits verletzten Frau habhaft zu werden und zerrt sie vor der Tür ins Dunkel. Sie kann sich befreien. Am nächsten Tag werden sie von der Security bedroht und unter Druck gesetzt, die Videos zu löschen. Das haben sie nicht getan. Mit den Videos und ihren Zeugnissen öffnet sich die RefugeeBlackBox des Erstaufnahme-Lagers Suhl und wir fordern Gerechtigkeit!
Wir fordern die umfassende und lückenlose Aufklärung dieser massiven Gewalt und der Vorgänge in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl und Konsequenzen für die entsprechenden Mitarbeiter*innen.

Wir fordern, dass die betroffenen Familien und alle anderen Menschen, die unter diesen Zustände in diesem Lager leben müssen, sofort auf die Kommunen und Städte verteilt und sicher aufgenommen werden!

Dann müssen wir uns die Frage stellen, wie es sein kann, dass unter der gegenwärtigen Landesregierung, die Missstände, die unterlassene medizinische Hilfeleistung, die massiven und fortdauernden Grundrechtsverletzungen und die brutale Gewalt gegen Schutzsuchende viel zu lange ohnmächtig hingenommen wurde. Wir fordern ein Suhl-Tribunal!

Wir teilen als Flüchtlingsrat Thüringen die Forderungen der Seebrücke Jena und fordern die Verantwortungsträger*innen dazu auf sie sofort umzusetzen. Wir und das Land Thüringen müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass die Busse in den Startlöchern stehen und bereit sind, Schutzsuchende aus Griechenland und aus Suhl zu evakuieren. Busse der Hoffnung, die wir hier in dieser Stadt und in allen anderen Städten begrüßen wollen, um niemanden länger zum Sterben zurückzulassen.
No Justice, No Peace!

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